
Worte können treffen. Worte sind Schall und Rauch, Geschwätz, das vergessen ist, sobald sie zum einen Ohr rein und zum anderen wieder heraus sind. Worte sind existenziell, sind der Grundstoff menschlichen Lebens, ohne die er nicht leben kann, zumindest nicht bei psychischer Gesundheit. Die sieben letzten Worte Jesu (u.a. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“–„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen ?“) gehören zu jenen existenziellen Worten, bilden sie doch den Höhepunkt des Dramas, das mit Marias „Ja“ begann und bis heute fortdauert. Der Dominikaner Timothy Radcliffe meditiert sie weise, weltoffen und lebensdienlich, sodass sie den Geruch verlieren, Leiden zu glorifizieren. Dadurch können sie auch für skeptische Christen wieder zu Worten des Lebens werden.
radcliffe_schweigenIhren vollen Sinn erhalten sie durch die Auferstehung. Der Tod konnte Jesus - das Wort Gottes - nicht zum Schweigen bringen, vielmehr haben seine Worte das Schweigen des Grabes gebrochen. Deshalb können wir uns von ihnen tragen lassen, ist Radcliffe überzeugt, „was auch immer uns bevorsteht : Scheitern, Verlust, Schweigen und Tod.“
An keinem Wort lässt sich das so deutlich zeigen wie an Jesu Aufschrei : „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen ?“ Dieser Ausdruck von Verzweiflung und Gottferne bildet den Höhepunkt der letzten Worte. Sein Ausruf hält die Hoffnung aufrecht, dass Gott auch dann, wenn Worte nichts mehr ausrichten können, noch anwesend ist. „Wenn wir Worte der äußersten Angst aussprechen, dann erinnern wir uns daran, dass Jesus sie sich am Kreuz zu eigen gemacht hat. Und wenn wir gar keine Worte mehr haben, nicht einmal um zu schreien, dann können wir seine nehmen.“ (58)
Radcliffe berichtet, dass es ihm in Ruanda so ergangen sei, wo er Augenzeuge des Völkermords geworden ist. Das ist typisch für seine Meditationen, er untermauert sie mit seiner Lebenserfahrung. Dadurch erhalten seine Gedanken eine wohltuende Bodenhaftung. Ergänzt werden die Meditationen jeweils mit dem Bild eines Kreuzes aus Radcliffes Besitz, das auf seine Weise jedes dieser Worte erläutert.
Auch wenn diese sieben Worte vor langer Zeit gesprochen und aufgeschrieben worden sind, gehören sie nicht der Vergangenheit an. Christus spricht sie immer noch, in uns, schreibt Radcliffe. Seine Worte enthalten das Vermächtnis, „das Schweigen über den Gräbern der Menschheit zu brechen“. Sie sollten daher die Christen ermutigen, meint Radcliffe, sich allen Zweifeln an Gott zum Trotz auf ihn zu verlassen und deshalb den Mut zu haben, freimütig zu sprechen.
Timothy Radcliffes Buch ist eine anregende Einstimmung auf Ostern, reicht aber weit darüber hinaus, weil es Hoffnung weckt und ermutigt, gegen das Leid und die vordergründigen Fakten auf Gott zu vertrauen. Eine Lektüre, von der man auch in schweren Zeiten lange zehren kann.
Timothy Radcliffe : Jenseits des Schweigens - Die sieben letzten Worte Jesu.
Freiburg : Herder Verlag 2014.
135 S.
(Als „Religiöses Buch des Monats“ benennen der Borromäusverein, Bonn, und der St. Michaelsbund, München, monatlich eine religiöse Literaturempfehlung, die inhaltlich-literarisch orientiert ist und auf den wachsenden Sinnhunger unserer Zeit antwortet.)