
Für die Menschen früherer Zeiten war das Gebet eine Selbstverständlichkeit, heute dagegen tun sich viele mit dem Beten schwer. Woran liegt das ? Ron Rolheiser, einer der bekanntesten Autoren spiritueller Literatur in Nordamerika, sieht einen Grund dafür sehr realistisch in den veränderten Lebensbedingungen : Unsere Kultur unterhält uns so gut, sie beschäftigt und beansprucht uns derart, dass wir darüber eine tiefere Dimension des Lebens völlig aus dem Blick verlieren. Wir müssen auf so vieles achten, dass wir keine Zeit mehr finden, uns mit Gott, unserer Sterblichkeit und dem Glauben auseinanderzusetzen. Eine gewisse Zeit für das Gebet zu reservieren, ist aber auf Dauer unerlässlich.
Rolheiser sieht jedoch noch einen zweiten, ganz entscheidenden Grund. Seiner Meinung nach machen wir uns meist ganz einfach falsche Vorstellungen vom Beten. Vor allem denken wir, wir müssten uns Gott von unserer besten Seite zeigen – so sagen wir ihm im Gebet aber gerade nicht das, was uns wirklich bewegt, wir sagen nur das, wovon wir glauben, dass er es hören will. Aber so wird unser Beten natürlich furchtbar mühsam, wenn wir ständig versuchen, etwas vor Gott zu verstecken, wenn wir glauben, Gott könnte uns erst dann lieben, wenn wir untadelig und vollkommen sind. Dabei verlangt Gott das gar nicht von uns, er möchte nur, dass wir mit all unseren Schwächen und Fehlern zu ihm kommen und uns von ihm helfen lassen. Wenn wir Angst haben, Gott könnte uns so, wie wir wirklich sind, nicht lieben, sondern müsste von uns enttäuscht sein, dann meiden wir lieber die Begegnung mit ihm - aber so verzichten wir auf eine Begegnung mit der einzigen Person, die uns wirklich versteht und annimmt. Nur wenn wir glauben, dass Gott gut ist, uns liebt und uns alle Fehler und Schwächen verzeiht, können wir im Gebet Gottes bedingungslose Liebe erfahren.
RolheiserUm sich keine falschen Vorstellungen vom Beten zu machen, muss man auch unterscheiden zwischen dem Gebet im Gottesdienst und dem privaten Gebet. Im Gottesdienst geht es darum, mit der gesamten Kirche zu beten – und für die ganze Welt. Es wäre nach Ron Rolheisers Auffassung eine heillose Überforderung für alle, wenn das liturgische Gebet stets jeden Einzelnen zutiefst in seiner Seele anrühren müsste. Das Gebet der Kirche für die Welt muss nicht unbedingt immer für unser Privatleben von Bedeutung sein, trotzdem können wir erkennen, dass es gut und richtig ist, für die Welt zu beten. Im privaten Beten ist es dagegen unverzichtbar, dass wir uns mit unserer ganzen Persönlichkeit einbringen, dass wir nicht nur unseren Geist, sondern v.a. auch unser Herz zu Gott erheben, denn es geht doch darum, Gottes Liebe zu erfahren.
Allerdings, der erfahrene Seelsorger verschweigt dies keineswegs, ist diese Erfahrung von Gottes Liebe nicht immer spürbar. In jedem Leben gibt es Sorgen, Enttäuschungen und Leid. In solchen Situationen wünschen wir uns, dass Gott eingreift, und zwar so schnell wie möglich. Gott hat jedoch Geduld, und er verlangt auch von uns Geduld. Ein gereiftes Beten muss Geduld mit Gott aufbringen, muss auch warten können, bis Gott alles zum Guten führen wird – vielleicht sogar erst ganz am Ende. Das heißt aber auch, dass Beten eine gewisse Treue voraussetzt. Wir müssen dem Beten einen festen Platz im Leben einräumen und das Gebet durchhalten, unabhängig von allen äußeren Ereignissen, unabhängig von allen Stimmungsschwankungen unserer Seele. Nach Ron Rolheiser ist dies sogar die einzige Voraussetzung, die man mitbringen muss, damit das Beten „unsere tiefste Sehnsucht“ (so der Untertitel im Original) erfüllen „und unserem schweifenden Herzen und Verstand eine Richtung geben“ kann. Da diese Voraussetzung von jeder und jedem zu erfüllen ist, darf man Rolheisers Buch als große Ermutigung verstehen.
Rolheiser, Ronald : Beten. Offen werden für Gott.
Freiburg : Herder Verlag, 2014.
128 S.
Als „Religiöses Buch des Monats“ benennen der Borromäusverein, Bonn, und der Sankt Michaelsbund, München, monatlich eine religiöse Literaturempfehlung, die inhaltlich-literarisch orientiert ist und auf den wachsenden Sinnhunger unserer Zeit antwortet.