
Mit „Judica“ ist dieser 5. Fastensonntag überschrieben. Es ist das erste Wort des Eröffnungsverses aus dem ersten Vers des 43. Psalms. Die Einheitsübersetzung übersetzt es mit „Verschaffe mir Recht, o Gott“. Es dringt der verzweifelte Ruf nach der spürbaren Etablierung der Gerechtigkeit Gottes durch. Was aber macht die Gestalt des spezifisch christlichen Verständnisses aus ?
Sieger Köder hat in seinem Kreuzweg die dritte Station mit „Jesus fällt zum ersten mal unter dem Kreuz – Die Last der anderen“überschrieben. In der schwer erkennbaren Dunkelheit über dem Kreuz werden die Figuren darüber erkenbar, die das Kreuz zugleich abhält und trägt : ein Richter, ein Gefolterter, ein Narr und ein Paar. Der Richter erinnert an den Repräsentanten der Nazi-Justiz, Roland Freisler, und steht für jede Form menschenrechtswidriger Justiz und die anhängenden Gesellschaftssysteme. Der nackte, gefesselte und vor Schmerz Schreiende steht für alle Folteropfer. Das Paar steht für Täter und Opfer des weltweiten Sextourismus und aktuell gelesen für die Opfer von sexuellem Mißbrauch. Der das Glas anhebende Narr symbolisiert den Menschen, dessen „Gott sein Bauch ist“, dem Genuss und eigenes Wohlergehen alles sind.
Sie alle zwingen Jesus in die Knie und lassen sein Gewand blutrot werden und entstellen sein Gesicht. Jesus kommt mit diesen Menschen und ihrem todbringenden Tun in Berührung. Das Kreuz hält die Dunkelheit, rahmt sie ein und umfasst Täter und Opfer. Das Rot ist ebenso das Rot der Liebe Gottes. Sie ist es, nach der der Psalmist, stellvertretend für die Menschheit und die ganze Schöpfung, schreit. Diese Liebe ist mehr als das Befolgen von Gesetzen. Sie gründet tiefer und begründet gleichzeitig alles darüber : Normen, Gesetze, Gemeinwesen. Sie liebt den Menschen, ist selbstlos und bedingungslos, rein, ohne Netz und doppelten Boden, ohne Hintergedanken und lässt sich nicht durch bürgerliche Konventionen und Etikette ausbremsen. Es geht ihr um das große Ganze, seine Heilung, sein Zusammenfügen und seine Rettung. Diese Liebe lässt den Satz des Evangeliums tiefer verstehen : „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Der Kontext von Schuld und Vergebung ist komplex und populistische Forderungen wie Wegsperren, Vertuschen, Bloßstellen und Erniedrigen sind niemals im Sinne Jesu deutbar. Diese Liebe richtet auf, nicht hin, sie ist die Grundsubstanz des Glaubens. Im Glauben wird das Gnade genannt.
Wer die Existenz dieser Liebe den Menschen vorenthält, der macht diese Welt ein Stück gnadenloser. Sie fordert Kirche und Gesellschaft heraus. Sie mutet es uns zu, immer wieder neue Antworten zwischen Rigorismus und Laxismus zu finden. Wer sich mit gebildetem Gewissen mühevoll anschickt, heute Antworten zu geben, der wird sich ethisch immer auch die Hände schmutzig machen. Mindestens irgendeiner Norm wird er nicht ausreichend genügen. Zurückziehen oder Verdrängen lassen aus mit der Welt verknüpften Engagements sollten wohlüberlegt sein. Denn vielleicht ist gerade das der Umbruch, den Gott von uns heute erwartet : Die Präsenz der Liebe Gottes an Orten und Milieus aufrechtzuerhalten, wo Gottvergessenheit und das Absurde Raum greifen, an der Seite und mitten in unserer Zeit im Sinne Madeleine Delbrêls und nicht in unbegreiflicher Abgrenzung und Ängstlichkeit. Diese Liebe wird verstanden, ohne viele Worte, jenseits theologischer Floskeln und kirchenamtlicher Worthülsen. Was richtig ist, kann nicht falsch sein – wenn es von selbstloser Liebe getragen ist.